Der russische Automobilmarkt wird in der kommenden Dekade einer der wichtigsten Wachstumstreiber der Branche sein. Bis 2020 könnte Russland zu den Top-6 der weltweiten Absatzmärkte im Automobilsektor aufsteigen. Um sicherzustellen, dass der russische Markt zu nachhaltigem Wachstum und internationaler Wettbewerbsfähigkeit zurückfindet, müssen führende Unternehmen und die Regierung zusammenarbeiten. Unternehmerische Rahmenbedingungen müssen attraktiver werden, damit internationale Automobilhersteller ihre Wertschöpfung verstärkt lokalisieren und somit Wachstum vor Ort unterstützen.
Gleichzeitig ist eine Restrukturierung der lokalen Hersteller- und Lieferantennetzwerke erforderlich, um sich im globalen Wettbewerb behaupten zu können. Zu diesen Ergebnissen kommt die Boston Consulting Group in ihrer dritten Ausgabe der Studie Winning the Localization Game in Russia: The Second Wave of Globalization in the Automotive Industry (die vorangegangenen Ausgaben wurden im März 2009 und im Januar 2010 publiziert).
Die Studie analysiert das Marktpotenzial der russischen Automobilindustrie bis 2020 und zeigt anhand von vier Stoßrichtungen, wie internationale Hersteller dieses Potenzial nutzen können.
Internationale Kooperationen in einem stark wachsenden Markt
Obwohl der russische Automobilmarkt 2009 knapp 50 Prozent seines Absatzes einbüßte und praktisch vor dem Zusammenbruch stand, bleibt Russland ein wichtiger Wachstumsmarkt für ausländische Automobilhersteller und Zulieferer von Originalteilen (Original Equipment Manufacturers bzw. Suppliers, kurz OEMs bzw. OESs).
Bis 2014 wird er bereits wieder sein Vorkrisenvolumen von drei Millionen abgesetzten Einheiten pro Jahr erreicht haben. „Wir rechnen in den nächsten fünf Jahren mit jährlichen Wachstumsraten zwischen acht und vierzehn Prozent“, sagt Nikolaus Lang, Partner und Globalisierungsexperte für die Automobilbranche bei BCG.
„Unsere Analysen prognostizieren vier Millionen abgesetzte Einheiten im Jahr 2020.“ Aktuell gehen russische Automobilhersteller wie AvtoVAZ, GAZ und Sollers verstärkt Kooperationen mit internationalen Partnern ein.
„Es ist wichtig, diese Partnerschaften so zu gestalten, dass sie Modernisierungschancen mit sich bringen und einen Transfer von Technologien nach Russland ermöglichen“, erklärt Lang. „Nur so kann Russland der Anschluss an den globalen Wettbewerb gelingen.“
2018 wird Russland der größte europäische Markt für PKWs und LCVs
Vor allem das von der Regierung geförderte „Cash for Clunkers“-Programm, das lokale Automobilhersteller fördert, führte im vergangenen Jahr zu einem Marktwachstum von 30 Prozent. Dennoch bietet der russische Automobilmarkt enorme Wachstumschancen auch für internationale Automobilhersteller und Lieferanten.
Die BCG-Analysen zeigen, dass die Produktionskapazitäten zwischen 2007 und 2010 um rund 50 Prozent gestiegen sind und bis 2014 die Marke von 3,2 Millionen Einheiten erreicht sein wird.
„Die internationalen Hersteller treiben ihre Bemühungen um den russischen Markt voran, angespornt von den Wachstumspotenzialen und den durch die Regierung neu geschaffenen Rahmenbedingungen. Wir erwarten, dass sich dieser Trend fortsetzt“, sagt Lang.
Strukturell wird sich der russische Markt in den kommenden Jahren zunehmend an europäischen Nachfragemustern orientieren, mit einem Fokus auf PKWs aus den mittelgroßen B- und C-Segmenten sowie auf Geländewagen. Letztere versprechen das größte Wachstum. Im PKW-Segment und im Bereich der leichten Nutzfahrzeuge (Light Commercial Vehicles – LCVs) wird Russland bis 2018 zum europaweit größten Markt aufsteigen – und damit Deutschland überholen.
„Im Unterschied zu den anderen BRIC-Staaten, wo die Anpassung der Produkte an lokale Gegebenheiten erfolgskritisch ist – man denke an die Flex-Fuel-Autos in Brasilien, die mit unterschiedlichen Kraftstoffen fahren, oder an die Niedrigstpreisautos wie den Tata Nano in Indien –, wünschen sich russische Autofahrer Fahrzeuge, die den westlichen Modellen möglichst nahe kommen. Entscheidend ist in Russland die richtige Preissetzung, nicht die lokale Adaption der Produkte“, erklärt Lang.
Die Studie ermittelt vier Stoßrichtungen, wie internationale Unternehmen das Potenzial des russischen Automobilmarkts nutzen können:
- Produktion: 2015 werden die Produktionskapazitäten der in Russland produzierenden OEMs rund 90 Prozent über Vorkrisenniveau liegen, das entspricht einer Verdoppelung seit 2007. Um dieses gesteigerte Fertigungspotenzial zu nutzen, muss es den OEMs jedoch gelingen, den Ausbau ihrer Kapazitäten zeitlich optimal auf die Entwicklung der Nachfrage abzustimmen.
Eine weitere Herausforderung sind die vergleichsweise hohen Materialkosten in Russland, die aus höheren Fix-, Logistik- und Qualitätskosten resultieren und bis zu 15 Prozent über dem Preisniveau westeuropäischer Staaten liegen. Ein stringentes Kostenmanagement ist daher erfolgskritisch.
Lokale Beschaffungs- und Produktionsverbünde sind eine Möglichkeit, Produktionskosten durch Skaleneffekte niedrig zu halten. Kleinere Hersteller werden den Markt dagegen vermutlich vorwiegend über Importstrategien erschließen und auf eine eigene Produktion vor Ort verzichten.
- Beschaffung: 21 der weltweit 40 größten OESs im Automobilsektor sind aktuell in Russland präsent. Die Studie prognostiziert ihnen ab 2010 ein jährliches Wachstum um 19 Prozent: Bis 2015 werden die Umsätze der Zulieferer damit von 6,7 Milliarden Euro auf 15 Milliarden Euro steigen.
Dennoch besteht auf der lokalen Lieferantenseite deutliches Optimierungspotenzial, vor allem in puncto Qualität, Liefertreue und finanzieller Stabilität. Mögliche Strategien für eine Verbesserung der Qualität sind die Gründung von Kompetenzzentren, eine gezielte Spezialisierung und die Zusammenarbeit mit westlichen Partnern.
- Marketing und Vertrieb: Die Studie zeigt, dass 60 Prozent der russischen Bevölkerung keinen Automobilhändler in ihrer unmittelbaren Nähe haben. Eine größere Händlerdichte wäre folglich erstrebenswert. Gleiches gilt für den Aftersales-Service, d. h. die Wartung und Reparatur von Fahrzeugen, wo ein dichteres und professionelleres Angebot anzustreben ist.
Während der Gewinn europäischer Autohäuser zu rund 60 Prozent aus Aftersales-Service resultiert, generieren russische Autohäuser lediglich 15 Prozent ihres Profits aus dieser Quelle.
- Forschung und Entwicklung: Andere Industrien wie die Luft- und Raumfahrtbranche oder die Chemieindustrie haben gezeigt, dass Investitionen in lokale Forschungs- und Entwicklungszentren sich auszahlen.
Auch im Automobilsektor ließe sich das Potenzial Russlands nutzen – angefangen bei der großen Anzahl an technisch gut ausgebildeten Fachkräften bis zur vorhandenen Expertise in Forschungsbereichen wie Kraftstoffzellen oder Smart Materials.
Background: The Boston Consulting Group (BCG) ist eine internationale Managementberatung und weltweit führend auf dem Gebiet der Unternehmensstrategie. BCG unterstützt Unternehmen aus allen Branchen und Regionen dabei, Wachstumschancen zu nutzen und ihr Geschäftsmodell an neue Gegebenheiten anzupassen.
In partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den Kunden entwickelt BCG individuelle Lösungen. Gemeinsames Ziel ist es, nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu schaffen, die Leistungsfähigkeit des Unternehmens zu steigern und das Geschäftsergebnis dauerhaft zu verbessern.
BCG wurde 1963 von Bruce D. Henderson gegründet und ist heute an 71 Standorten in 41 Ländern vertreten. Das Unternehmen befindet sich im alleinigen Besitz seiner Geschäftsführer. In Deutschland und Österreich erwirtschaftete BCG im Jahr 2009 mit 865 Beraterinnen und Beratern einen Umsatz von 418 Millionen Euro.